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Oskar Schulz des Eduard

 Der bittere Wespenhonig

          Johann hatte Schwierigkeiten schon mit dem Beenden der zehnten Klasse, dann wurde er von der Lehrstelle gekündigt und der unzufriedene Großvater fragte ihn: „Wann wirst du Leben lernen?“
„Kann man denn auch Leben lernen, Opa?“, fragte verwundert der Bursche.
„Ja, das kann man und muss man! Hör zu: Es war 1941 und geschah in der damaligen Sowjetunion. Schon vier Monate tobte der Krieg und zwei Monate waren vergangen, als alle Sowjetdeutschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Meine Bekannten wurden in einen, von Gott vergessenen Aul, am Rande der Sandwüste Karakum angesiedelt. Alle Lebensmittel waren längst verzehrt.
Der 14-jährige Otto – der einzige der in der Familie Arbeit hatte – war beim Laden der schweren(80kg) Getreidesäcken verunglückt und hatte sich den linken Arm gebrochen. Bisher brachte er täglich einen Büschel Stroh in dem er drei, vier Pfund ungeschälte Hirsekörner versteckt hatte nach hause. Hirse, Schildkrötenfleisch und Süßholztee waren das Einzige woraus Mutter das Essen für die vierköpfige Familie vorbereiten konnte. Es war Ende Oktober und schon kalt, rauer Wind aus der Wüste peitschte mit aufgewirbeltem Sand Gesicht und Hände. Keine Nahrungsmittel, kein Brennstoff im Hause. Ringsum nur Steppe, Sand und Staub.
Als der Schmerz im Arm etwas nachließ entschied sich Otto einen versuchen zu machen Brennstoff aufzutreiben. Weit hinter den Dünen sollte Gebüsch wachsen. Es fiel ihm sehr schwer, die stacheligen Sträucher mit einer Hand abzuschneiden und in einen Bündel zusammenzuschnüren.
Als er während dem Ausruhen einen Wanderstab anfertigte witterte er in der erwärmten Herbstluft einen unbekannten, reizenden Duft der aus den abgeschnittenen Enden der Sträucher kam. Hier um den ausgetretenen grünlichen Saft drängten sich summend mehrere Wespen. Erst jetzt hatte er bemerkt, dass sich an manchen Sträuchern Wespennester befanden an denen mehrere böse brummende Insekten herumkrabbelten. Er stellte fest, dass einzelne Zellen der Waben einen aromatischen Honig mit bitterlichen Beigeschmack enthielten. Sich vor den Wespenstichen schützend, besorgte er sich die erste an diesem Tag Malzeit und machte noch einen kleinen Vorrat.    
Dann schwang er den schweren Strauchbündel auf die Schultern und machte sich auf den Heimweg. Doch mit jedem Tritt empfand er einen Schmerz, als ob in die Hüftgelenke Sand eingedrungen wäre und musste bald, sich auf den Stab stützend, stehen bleiben.
Oskar Schulz des Eduard
Etwas ausgeruht machte er wieder einige Schritte. Und wieder entstanden in den Gelenken Messerstiche die den Unterlaib durchbohrten. Als Folge entstand ein Verlangen das Bündel fallen zu lassen. Doch eine andere innere Stimme forderte überzeugend: ,Tu es nicht! Denn du kriegst dieses Gewicht das zweites Mal nicht in die Höhe. Nur vorwärts.’
Mit zusammengebissenen Zähnen machte er wieder paar Schritte. Ein Tritt und sofort blitzten die Stiche durch den ganzen Körper: ,Lass das Bündel fallen!’, befahl das Leiden. ,Nein’, erwiderte der Verstand, nur du kannst die Wärme ins Haus bringen.’ Nochmals ein paar Schritte und abermals nagte der Schmerz an Seele und Verstand. Er fürchtete schon die Beherrschung zu verlieren und klammerte sich fest an das Bewusstsein – er muss weiter gahen. Wie viel Schritte sind noch geblieben? Er wollte sie zählen: ,Eins, zwei, drei. Nein, so kann es nicht hinhauen die Zahlen werden ja immer größer, schon 100, dann werden es 1000 sein. Nein ich werde rückwärts abzählen.’
Ein Schritt – Schmerz: ,Zweitausend’. Noch ein qualvoller Schritt: ,1999’, 1998...‘ Jeder Tritt brachte unerträgliches Leiden, es waren immer noch 1800, dann aber nur noch 1000, endlich 500. Er taumelte, doch die innere Stimme diktierte: ,Weiter, du darfst nicht fallen, es sind ja nur noch 400 Schritte geblieben.’ Und abermals: Tritt – Schmerz, Tritt – Schmerz. Die Wahrnehmung der Realität verschwand und er bewegte sich fast unbewusst zum Ziel.
Letztendlich. Er sah schon die Hütte und die Mutter vor der Tür. Näher. Sie hatte geweint, doch jetzt leuchtete sie auf. Sie sah ihren Sohn mit dem Bündel Holz, freute sich seiner Rückkehr und der Wärme die er ins Haus brachte.
Erschöpft, sich an die Wand der Hütte gelehnt, rutschte Otto zu Boden. Er hatte den unerträglichen Schmerz besiegt, der eigenen Schwäche widerstanden, sich selbst überwunden: ,Geschafft!’, flüsterte er schief lächelnd.
Am nächsten Morgen erzählte die Mutter, dass Otto in der Nacht gestöhnt und immer wieder rückwärts gezählt hat. Otto schwieg. Vater sagte besorgt: ,Um über den Winter zu kommen brauchen wir fünfzig mal soviel Reisigholz, wie du gestern gebracht hast’.
,Ich werde mich bemühen, ich werde es schaffen’, antwortete der Jüngling überzeugend. ,Otto, bring mir wieder Konfekt mit’, flüsterte schmeichelnd das achtjährige Schwesterchen ihm zu. Und er brachte ihr jeden Tag mehrere Wespennester mit.
Später war es dem Bursche gelungen mit Schleifen aus Haaren von einem Pferdeschwanz im Gebüsch etliche Fasane zu fangen, dann auch Hasen. Das war die Rettung der Familie. Bald ließen auch die Schmerzen in den Hüften nach. Wahrscheinlich wirkte der Wespenhonig und das Wildfleisch so heilend. Jetzt zählte Otto nicht nur die Schritte, er ritzte
Oskar Schulz des Eduard
50 Striche in die Lehmwand und löschte jeden Tag einen Kratzer aus. Es blieben nur noch zwei von diesen Zeichen, als der Knochenbruch verheilt war und ihm wieder der Antritt zur Arbeit bevorstand.
Das war Ottos erste Stufe in der Überlebensschule. Die zweite Mutprobe kam mit 15 Jahren, als er in die „Trudarmee“ – ein Zwangslager für die Sowjetdeutschen – verschleppt wurde. Hier handelte es sich, um das Dasein. Und er lernte hartnäckig, wie am Leben bleiben und machte dieses zur Regel seiner Existenz. So konnte er schon in den jungen Jahren feststellen, dass das Leben ein ewiger Kämpf gegen die eigene Schwäche ist.
Und du, Johann, solltest von jenem Jungen, dass Kämpfen, dass sich beherrschen, wie seine eigene Schwächen überwinden lernen.“
Zögernd fragte Johann: „Großvater, warst du jener Junge?“
„Schon möglich. Ich lerne auch jetzt noch, mit meinen 72 Jahren. Du sollst begreifen: Ein Ziel stellen, ist nur der erste, kleine Schritt. Man muss einen starken Willen in sich erzeugen, um den auftauchenden Hindernissen und der eigenen Müdigkeit zu widerstehen und diese Empfindungen im hartnäckigen Kampf besiegen, um so dem gestellten Ziel entgegenzuwirken.“
„Danke, Opa, aber ich werde versuchen ohne den bitteren Honig ins Leben einzusteigen“ , erwiderte er.
Nach einem Jahr wurde Johann in den Wehrdienst einberufen. Der Dienst machte ihm Spaß. Jeden Freitag kehrte er, bis Sonntag nachmittags, heim. Die Eltern bewunderten sein Erwachsenwerden. Die Kameraden strömten zu ihm und lauschten seiner Erzählungen. Die Mädchen... er konnte sich ihrer nicht erwehren. Sein jugendliches Leben war süß.
          Der Militärdienst näherte sich dem Ende, es stand nur noch das abschließende Manöver bevor. Noch zwei Wochen. Er verließ voller Freude, zum letzten Mal das Elternhaus, um dann auf immer zu Hause zu bleiben.

          Nach einer Woche traten drei Offiziere in die Elternwohnung, nahmen schweigend die Mützen ab und legten eine Zeitung auf den Tisch. Da stand mit großen Buchstaben: Leipziger Soldat...von Panzer                    überrollt – tot                                  Die Träger der schrecklichen Nachricht
Oskar Schulz des Eduard
Stotternd folgten nebelhafte Erklärungen der ältesten Militärperson. Die Mutter fiel in Ohnmacht...
          Die Bestattung verwandelte sich für die Eltern, Verwandten und Freunde, wegen der Expertise des tödlichen Unfalls in eine zweiwöchige, herzzerbrechende Trauer.
Johann ist das erste Opfer, das von uns die neue Heimat gefordert hat. Kein Krieg und
doch ein unerwarteter, so schmerzhafter Verlust!
Jetzt haben auch wir hier ein Grab zu dem wir beten gehen, und an Johanns Grabhügel stehend, alle unsere, in der Weite, verstorbenen Verwandten in tiefer Trauer gedenken und beweinen können.
Doch unablässig verfolgt mich der Gedanke: Hätten vielleicht doch ein paar Tropfen von jenem bitteren Honig meinem Enkelsohn geholfen das Leben besser zu erlernen und so das Unglück zu vermeiden?